Manchmal kann man Gedankenexperimente machen, wirklich die Welt durch die Augen des anderen sehen und mal zu schauen, wie sieht die Welt durch ihn aus, wie sieht die Welt durch sie aus, wie sieht die Welt gemeinsam aus? „Angenommen, ich wäre jetzt Ishvara. Wie würde ich die Welt als Ganzes sehen? Angenommen, ich wäre jetzt das Bewusstsein der Erde. Wie würde ich mich jetzt als Ganzes fühlen?“ Und so können wir unser Bewusstsein spielerisch einfühlen und immer wieder wissen: „Aham Brahmasmi.“ Und dann können wir Bhaktas sein. Bhakti ist jemand, der Hingabe hat zu Gott. Und wenn wir Hingabe zu Gott haben, dann können wir Dasya und Sakya üben. Theoretisch gibt es die fünf so genannten Bhavas. Die meisten von euch haben die auch schon gehört. Da gibt es Dasya Bhav, das ist die Einstellung: „Ich bin Diener Gottes.“ Sakhya Bhava: „Ich bin Freund Gottes.“ Dann gibt es Madhurya Bhava, das heißt: „Ich bin Geliebter, Geliebte Gottes.“ Dann gibt es Vatsalya Bhava: „Ich bin entweder Kind Gottes oder Vater, Mutter Gottes.“ Und dann gibt es noch Shanta Bhava, das friedvolle Gefühl von göttlicher Gegenwart überall. Die intensivste Gottesbeziehung ist Madhurya Bhava, Geliebter Gottes. Man will Gott spüren. Man will Gott fühlen. Man will das Gefühl haben, Gott umarmt einen. Es ist eine fast physisch erfahrbare göttliche Nähe. Und wenn Gott nicht spürbar, fühlbar ist, dann ist man unglücklich, traurig. So wie jemand frisch Verliebtes nicht abwarten kann, den Geliebten zu sehen. „Ach, er hat noch keine SMS geschickt, was ist los? Er hat mich heute nicht angeguckt, was ist los? Wann sehe ich ihn oder sie wieder?“ So ähnlich, diese Intensität des Verlangens können wir zu Gott haben. Das wäre Madhurya Bhava. Nicht so häufig, mindestens auf Dauer. Kurze Phasen haben das gar nicht mal so wenige Menschen, wenn man wirklich mal die Gegenwart Gottes spürt und diese unglaubliche Liebe und diese Berührtheit. Und dann will man das vertiefen. Vatsalya Bhava ist im Christentum die vorwiegende Einstellung, insbesondere Gott als Vater. „Vater unser im Himmel. Geheiligt sei Dein Name.“ Vater. Oder Jesus hat Gott genannt, Abba, Vater. Es war also zu Gott als Vater. In Indien finden wir auch Gott als Mutter. In Indien wird sogar häufiger Gott als Mutter angesehen als als Vater. Gott wird eher wenn schon als Meister, wenn es männlich ist, wenn es weiblich ist, dann ist es aber Mutter. Und eine der drei großen Stränge des Hinduismus, der Shaktismus, auch Tantrismus genannt, verehrt eben Gott als Mutter. Oder die Naturvölker viel, verehren Gott als Mutter. Gut, und dann können wir aber auch Gott als unser Kind verehren, was vielleicht etwas schwieriger nachzuvollziehen ist, denn ein Kind ist ja schutzbedürftig, man muss sich um ein Kind kümmern, Kind schreit, Kind braucht Nahrung usw. Aber es ist in vielen Kulturen verbreitet, z.B. viele Menschen lieben die Bilder von Jesus an der Brust von Maria. In Indien gibt es all die wunderschönen Krishna-Bilder, wo Krishna als Baby da ist und krabbelnd durch die Gegend ist. Oder den kleinen Ganesha, Baby-Ganesha, lieben Menschen. Also, Gott als Kind. Und Shanta Bhava ist die abstrakte Gottesverehrung, eigentlich die Gottesverehrung des Jnana Yogis. Er weiß, hinter allem ist das Göttliche. Und jetzt keine enge persönliche Beziehung, Gott ist weder Vater, noch Mutter, noch Freund, noch Meister, noch Kind, noch Geliebter, aber Gott ist irgendwo dahinter.
Dies ist der 73. letzte Beitrag zum Thema „Spirituelle Praxis“. Aus einer unbearbeiteten Mitschrift eines Sprituellen Retreats mit Sukadev Bretz im Yoga Vidya Ashram Bad Meinberg. Mehr Informationen:
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